Inflation?

16. September 2024 Reportagen & Porträts Comments (0) 152

Alles wird teurer, die Preise steigen so schnell wie seit Jahrzehnten nicht. Das macht Angst. Aber es gibt Hoffnung, dass der Spuk vorbeigeht

(Stern Titelgeschichte 44/2021, mit Stefan Schmitz)

Das Schauma-Shampoo 7-Kräuter zeigt es, der Almette-Kräuterfrischkäse, die Milka-Schokolade Alpenmilch. Und erst der Liter Diesel. Das Gas. Das Heizöl. Alles, alles wird teurer. Und zwar richtig. Das ist das Gefühl in diesem Herbst. Selbst in der amtlichen Statistik kann man es ablesen: 4,1 Prozent lagen die Verbraucherpreise im September über denen des Vorjahresmonats – ein steilerer Anstieg als je zuvor in den vergangenen 28 Jahren.

Die Pandemie hat nicht nur unser Leben durcheinandergebracht, sondern auch so ziemlich alle Märkte. Obst- und Gemüsepreise hängen davon ab, ob Saisonarbeiter wie gewohnt nach Westeuropa kommen können. Energiepreise gehen durch die Decke, weil wieder nachgefragt wird, was im Lockdown weniger gebraucht wurde. Und es gibt, einst unvorstellbar in der globalisierten Welt, Lieferengpässe, die dazu führen, dass Fahrräder Mangelware werden und Kühlschrankproduktionen stillstehen.

Wer wissen will, was aus unserem Geld wird, der muss sich auf den Weg machen zu Händlern und Verbrauchern, in die Büros von Experten und Keller mit Gasgeneratoren. Einfache, allgemeingültige Antworten sind auch da nicht zu finden. Aber ein ziemlich differenziertes Bild mit ein paar unscharfen Flecken. Die gute Nachricht ist: Wirklich schrecklich sieht es trotz aller Probleme nicht aus.

Ein geeigneter Start für die Erkundung ist ein Parkplatz vor einem Werkstor. Wenn mittags um zwei beim Schienenfahrzeughersteller Alstom im brandenburgischen Hennigsdorf die Schicht zu Ende geht, macht sich Kerstin, die in der Kantine arbeitet und ihren Nachnamen hier nicht lesen will, auf den Heimweg. 70 Kilometer fährt sie jeden Tag. Immer die Tankanzeige im Blick. Sie kauft Sprit da, wo er günstig ist. Ist keine vergleichsweise billige Tankstelle in der Nähe, kauft sie nur ein paar Liter, wenn die Nadel ganz links steht.

Kostete der Liter im Januar noch durchschnittlich 1,40 Euro, sind es heute 1,70. “Fast alles wird ja teurer”, sagt die junge Frau mit dem roten Haar.

Das stimmt schon. Aber es trifft nicht alle gleichermaßen. Für den Fernpendler, der auf das Auto angewiesen ist, ist der Spritpreis enorm wichtig. Dem Bahnfahrer kann er egal sein. Dennoch werden beide in der Statistik zusammengefasst – bei der Ermittlung der Energieausgaben jedes Einzelnen geht es nicht um persönliche Lebensumstände, sondern um den Durchschnitt.

Und dann kommt es im echten Leben natürlich auch darauf an, was man sich leisten kann und wie man die Welt sieht. Bei Mario Furlanello etwa, einem Wirt aus Frankfurt, flattert die Inflation regelmäßig per Post ins Haus, aufgedruckt auf Lieferscheine. Da steht dann, dass man leider etwas mehr verlangen müsse als bisher und um Verständnis bitte. Butter, Rindfleisch, Apfelwein, Hähnchen. Kein Preis bleibt der alte. Der Chef des Bornheimer Ratskellers lehnt dennoch entspannt an einem der Tische seines Restaurants und versichert, dass sich die Welt weiterdrehe, auch wenn die Butter 20 Cent mehr kostet: “Als Koch kann ich sagen: Es wird alles heißer gekocht als gegessen.”

Furlanello ist ein Mann mit vielen Talenten, der in einem früheren Leben mal Architekt war. Seine Gelassenheit im Angesicht der steigenden Preise verbindet ihn mit den meisten Ökonomen im Land. Die können wort- und zahlenreich erläutern, warum alles halb so schlimm und bald wieder vorbei ist. Nur will das gerade kaum jemand hören. Wenn Wissenschaft auf Lebenswirklichkeit trifft, dann knallt es.

Ein Montag im September, das Palais Biron, Schauplatz der 148. Baden-Badener Unternehmergespräche. Es spricht Isabel Schnabel, eigentlich Professorin für Finanzmarktökonomie und nun Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB). Und wie sie spricht. Dass der “derzeit beobachtete Anstieg der Inflation eigentlich eine gute Nachricht ist”, sagt sie. Dass die Inflation ohnehin wesentlich von statistischen Effekten getrieben werde und vor allem so hoch sei, weil sie im Jahr zuvor so niedrig gewesen sei. Im Durchschnitt der vergangenen zwei Jahre komme eine Rate raus, die unter den Zielvorgaben der Zentralbank liege.

Rund zwei Prozent im Jahr hält die EZB für angemessen, sodass die Nachfrage nicht abgewürgt wird und zugleich der Geldwert hinreichend stabil bleibt. Aus dieser Perspektive war alles gut zwischen 2019 und heute.

Aber kann das sein? Redet Frau Professor über die gleiche Welt wie Pendlerin Kerstin? Die eine wertet die besten Daten über die Preise aus, die es gibt. Die andere wertet die Sonderangebote in Supermarktkatalogen aus, damit ihre Kinder auf nichts verzichten müssen. Doch beides