Deutschland – Europas No-Powerhouse

16. September 2024 Analysen Comments (0) 194

Das deutsche Geschäftsmodell beruhte auf billiger Energie und einer friedlichen Welt, die kooperiert. Seit dem Krieg ist es in seinen Grundfesten erschüttert. Deutschland muss sich auf eine neue Ära einstellen
(Titel Capital 09/2022)

Die Briten waren schon immer kreativ darin, Namen für Deutschland zu finden. Während der Weltkriege nannten sie Deutsche abfällig Krauts, zu Beginn des Jahrtausends das Land „The sick man of Europe“. 2010 wurde aus Deutschland das „Powerhouse“ Europas. Zwölf Jahre ist es nun her, dass der britische „Economist“ Deutschland eine Zeit des Wohlstands vorhersagte, mit der sich kein anderes Land in Europa würde messen können.

Und so war es an der Zeit, dass sich die Briten wieder über ihren Nachbarn beugen – und der „Economist“ tat es spöttisch, mit einem Märchen der Gebrüder Grimm, das hierzulande kaum bekannt ist. Es geht um den Ziegenhirten Karl Katz, der in einer Höhle in einen tiefen Schlaf fällt. Als er aufwacht, stellt er fest, dass Jahre vergangen sind – und er die Welt nicht wiedererkennt.

Ja, wir sind aufgewacht. Nicht nur in einer anderen Welt, wie Annalena Baerbock nach Kriegsbeginn sagte. Sondern aus einer Fantasie, befand der „Economist“. Die Deutschen seien „eingelullt vom eigenen wirtschaftlichen und diplomatischen Erfolg“ gewesen. „Die Regierungspolitik wurde weniger von Pragmatismus als von Selbsttäuschung geleitet, da die Politiker Wähler mit berauschendem Gerede von dauerhaftem Wohlstand mit minimalen Reibungen und natürlich null Emissionen lockten.“

Man muss das in der Schärfe nicht teilen. Aber der Befund trifft den Kern: Fassungslos schauen viele auf die neue Welt, und zwischen hektischem Krisenmanagement, neuen LNG-Terminals und schmerzhaften Kernkraftdebatten sortieren wir die Welt neu. Die Energie aus Russland, die Sicherheit aus den USA und die Aufträge aus China – das goldene Dreieck des deutschen Geschäftsmodells ist erschüttert. Plötzlich ist Deutschlands Stärke, seine Vernetzung und Offenheit für den Handel, zur Schwäche geworden. Das Geschäftsmodell baut auf eine Welt, die kooperiert, Grenzen öffnet statt hochzieht, die zusammenwächst statt auseinanderbricht.

Es ist nicht nur der Ukrainekrieg. Die Spannungen zwischen China und den USA um Taiwan, die sich Anfang August dramatisch zuspitzten, künden vom nächsten Konflikt, der die deutsche Wirtschaft zerreißen könnte.

Und so stellt sich die Frage, ob aus dem Powerhouse Europas ein No-Powerhouse wird. Ein Land, das wegen zu hoher Energiepreise an Produktivität verliert und in manchen Branchen nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Dessen industrieller Kern schmilzt. „Letztlich geht es darum: Machen wir es mit der Industrie oder ohne sie?“, sagte Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), schon im Mai angesichts der hohen Energiepreise. Und es geht auch um die Abhängigkeit vom Ausland, die Deutschland mit jedem neuen Konflikt von allen Seiten verwundbar macht.

1 Corona: das Vorbeben

Seit Wladimir Putin den Deutschen den Gashahn zu- und wieder aufdreht, errechnen Ökonomen düsterere Szenarien. Bei einem Lieferstopp könnte Deutschland dieses und nächstes Jahr zusammen rund 220 Mrd. Euro seiner Wirtschaftsleistung einbüßen, mehr als 6,5 Prozent des jährlichen BIP, prognostizierten die größten Wirtschaftsforschungsinstitute. Selbst wenn diesen Winter noch ausreichend Gas fließen sollte, ist an ein Weiter-so nicht zu denken. Die Gaspreise sind im Einkauf von rund 20 Euro pro Megawattstunde vor einem Jahr auf rund 200 Euro gestiegen. „Wir können so nicht mehr wirtschaftlich produzieren“, warnen Unternehmerinnen wie Carletta Heinz vom Flakonhersteller Heinz-Glas, eine prominentere Vertreterin der Glasindustrie. Ein Sechstel der Industrieunternehmen wollen laut einer DIHK-Umfrage ihre Produktion drosseln – oder sie aufgeben.

Den ganzen Essay gibt es bei Capital