Für die einen verbreitet Stephanie Kelton einen katastrophalen Irrglauben, für die anderen ist sie eine Erlöserin: Die US-Ökonomin sagt, Staaten mit eigenen Währungen könnten unbegrenzt Schulden machen. In den USA ist ihre Zeit jetzt gekommen
(Capital 12/2020, mit Timo Pache)
Stephanie Kelton ist es noch zu früh, um zu jubeln. Als sie sich am Donnerstagnachmittag nach der Präsidentschaftswahl zum Capital-Interview in die Zoom-Konferenz schaltet, sieht es zwar schon ziemlich gut aus für den demokratischen Kandidaten Joe Biden. Doch noch werden viele Stimmzettel ausgezählt, die Mehrheitsverhältnisse im US-Kongress sind völlig ungewiss und damit auch die Frage, was ein US-Präsident Joe Biden wird durchsetzen können. Immerhin, die richtige Lektüre für den neuen Präsidenten hat sie bereits zurechtgerückt: Hinter ihrem Rücken im Bücherregal steht ihr eigener Bestseller „The Deficit Myth“.
CAPITAL: Frau Kelton, Joe Biden schickt sich an, der nächste Präsident der USA zu sein. Was erwarten Sie von seiner Wirtschaftspolitik?
STEPHANIE KELTON: Noch ist das schwer zu sagen. Der Präsident selbst kann ja ohne den Kongress keine Ausgaben beschließen. Aber wenn die Demokraten im Senat und im Repräsentantenhaus eine Mehrheit bekommen, dann erwarte ich ein sehr ehrgeiziges Hilfspaket von mehreren Billionen Dollar: Unterstützung für Einkommensausfälle in der Corona-Krise, Investitionen in die Infrastruktur, höhere Ausgaben für Bildung und den Klimaschutz. Das alles ist ja Teil von Bidens Programm.
Da ist es ja gut, dass sich die US-Regierung gerade auch dank der Zentralbank Fed so günstig verschulden kann wie nie, oder?
Nein, tut mir leid. Jetzt machen Sie schon den ersten Fehler.
Inwiefern?
Sie gehen davon aus, dass die Regierung die Zentralbank braucht, um ihre Ausgaben zu finanzieren. Diese Ansicht wird ja auch immer wieder der Modern Monetary Theory (MMT) unterstellt, für die ich stehe. Aber unser Ansatz besagt: Wir brauchen gar keine Zentralbank, um die Ausgaben der Regierung zu bezahlen. Die Zentralbank finanziert die Regierung schon längst.
Das müssen Sie bitte erklären.
In den USA ist die Fed die Hausbank der US-Regierung. Dort hat sie ihr Konto. Wenn der Kongress beschließt, zwei Billionen Dollar auszugeben, dann sagt er der Fed: Schreib dem Empfänger die Summe als Guthaben auf sein Bankkonto. Das bedeutet: Wenn die Regierung Geld ausgibt, entstehen neue Dollar. Jedes Mal.
Moment mal, wir gehen eigentlich davon aus, dass die Zentralbank von der Regierung unabhängig ist.
Waren Sie mal auf der Homepage der US-Notenbank? Ihre Adresse im Netz lautet federalreserve.gov – gov für government, also Regierung. Notenbank und Regierung sind eins, zumindest in den USA. Die Unabhängigkeit bezieht sich auf ihr Mandat, Preisstabilität zu erreichen. Sie macht die Zinspolitik, aber das interessiert eine Regierung nicht.
Warum dann all die Leitzinssenkungen und Anleihekäufe der Zentralbanken? Braucht die Regierung das nicht, um sich finanzieren zu können?
Schauen Sie mal, was Ronald Reagan in den 80er-Jahren gemacht hat: Er beschloss massive Steuersenkungen und eine enorme Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Das Staatsdefizit ist explodiert. Und Reagan hatte mit Paul Volcker auch keinen Fed-Vorsitzenden, der sagte: Wir werden Ihnen helfen, das alles zu bezahlen, im Gegenteil: Volcker erhöhte den Leitzins massiv und kaufte keine Anleihen. Aber das konnte Reagan nicht aufhalten.
Kann die Regierung also so viel ausgeben, wie sie will?
Für Staaten, die ihre eigene Währung haben, ist die Zahlungsfähigkeit grenzenlos.
Werden die Märkte bei immer mehr Schulden nicht nervös?
Wenn Investoren jetzt nicht nervös sind und mein gesamtes Erwachsenenleben nicht, in dem es bis auf vier Jahre immer ein Defizit gab, dann nicht. Es kommt nicht darauf an, wie hoch die Schulden sind, sondern in welcher Währung die Schulden notiert sind. Schauen Sie sich Japan an, dort beträgt die Staatsverschuldung 250 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und? Das Land ist stabil. Die Verschuldung des Staates ist irrelevant. Die meisten Investoren scheinen das zu verstehen.